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Kunstverein Ruhr im Forum Bildender Künstler


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François Morellet: Lamentable

26.10.2012 - 10.02.2013

Der international bekannte französische Künstler François Morellet hat für den Schaufensterraum des Kunstvereins die 2006 entstandene Arbeit „Lamentable“ vorgeschlagen. Sie besteht aus acht, etwa 2,50m langen, leicht geschwungenen roten Leuchtstoffröhren, die aneinandergelegt einen 6,50m durchmessenden Kreis ergeben würden. Weil die Syntax und letztlich die äußere Gesamtform seiner Werke in der Regel variabel ist, fordert Morellet auch in Essen einen Dialog mit dem Raum heraus, der eine spezielle, auf den Ort bezogen Entscheidung zum Ziel hat. „Lamentable“ erscheint konsequenter Weise nicht als vollendeter Kreis, sondern vielmehr als de-konstruierte, verfremdete, geradezu mehrfach „geknickte“ und dreidimensional in den Raum hineinragende Form. Die acht miteinander verknüpften Bogenelemente hängen zur einen Hälfte von der Mitte der Decke herab und sind zur anderen auf dem Boden zu liegen gekommen. Auf diese Weise entsteht nach Willen des Künstlers eine „Zeichnung im Raum“, die aufgrund ihres komplexen, mehrfach die Richtung wechselnden Verlaufes prima Vista gar nicht auf einen Kreis, sondern auf eine unregelmäßig- abstrakte Formenfindung, welche man nicht auf den ersten Blick erfassen kann, schließen lässt.
Macht man sich aber die Mühe, den Verlauf der acht geschwungenen roten Stäbe genauer zu verfolgen, entdeckt man, dass sie im Sinne einer linearen Verkettung an ihren Enden zusammenhängen. Hat man diese Verbindung als zugrundeliegendes System erkannt, ist man auch in der Lage über gewisse Umwege und genaue Beobachtungen die De-konstruktion eines hier zu unterstellenden Kreises zu erkennen. Zudem wird klar, dass das Werk „Lamentable“, so wie wir es hier als Resultat vor uns sehen, nicht als festes Formengefüge vorgelegen haben kann, sondern sich erst durch seine Positionierung im Raum und dessen konkrete Bedingungen (Deckenhöhe, Pfeiler, Raumgröße, Schaufenster) als solches konstituiert. Selbst die Schwerkraft spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle, bestimmt sie letztlich, in welche Richtung oder mittels welcher Drehung die bogenförmigen Elemente am Ende zum Hängen bzw. Liegen kommen. Wir haben es hier mit einer autonomen, zugleich aber auch stark kontext- und zufallsgebundenen Arbeit zu tun.
Es geht also um mehrere Komponenten und regelrechte Wirkkräfte, welche bei „Lamentable“ ihre entscheidende Rolle spielen: Es sind einerseits die materiellen und physikalischen Grundlagen der fragilen mit Leuchtgas gefüllten Röhren, auch die sichtbaren Kabel, Stecker und Transformatoren, die die Grundlagen dafür bilden, dass diese Arbeit überhaupt zu leuchten vermag. Andererseits ist es die faszinierende Phänomenalität des intensiv strahlenden und doch immateriell erscheinenden roten Lichts, welche die genannten gleichsam apriorischen Bedingungen „überstrahlt“. Die intensiv leuchtende, ständig die Richtung wechselnde Linie strukturiert und dynamisiert folgerichtig den gesamten Raum. Doch alle diese Komponenten sind gleichermaßen Bestandteile des Werkes und können nach und nach auch als solche in ihrem Wirkungsverhältnis zueinander wahrgenommen werden.
Für sich gesehen aber stellt „Lamentable“ nichts außerhalb seiner selbst dar. Es ist kein „Bild“, enthält auch keine Verweise auf eine außerhalb seiner selbst liegende „Bedeutung“ oder einen „Inhalt“, der hier zu unterstellen wäre. Ebenso fehlen in diesem Werk Komponenten wie „künstlerische Handschrift“ oder „Ausdruck“ völlig, was typisch für das Gesamtwerk von François Morellet und seinen repräsentationskritischen Ansatz ist. Man könnte sogar sagen, dass gerade wegen der wohltuenden Abwesenheit derartig expressiver, subjektiver und narrativer Komponenten sein Werk unverwechselbar wird und eine gewisse Nähe zu Positionen der Minimal- und Conceptual Art erhält.
„Lamentable“ aber ist und bleibt, was es ist: ein unter bestimmten Bedingungen zur Ausstellung und Anschauung gelangter rot leuchtender, in acht Elemente zerlegter und auf diese Weise höchst dynamisch dekonstruierter Kreis. Die eigentliche Absicht des Künstlers erweist sich somit in erster Linie als Konzept, als ausgeklügeltes System, das unter verschiedenen Bedingungen auf unterschiedliche Weise und zufallsbedingt im wörtlich zu nehmenden Sinne „Raum zu greifen“ vermag. Die Essener Version des Werkes gerät hier zur Parabel einer speziell für den Ausstellungsraum des Kunstvereins entstandenen Neuinszenierung und zur Grundlage einer besonderen ästhetischen Erfahrungen, welche in dieser Form nur hier vor Ort möglich ist.
Morellets „Lamentable“ vermag den Schaufensterraum des Kunstvereins so durch sein rotes Licht und seine Dynamik zu strukturieren und neu zu definieren, dass tagsüber, vor allem aber auch abends und nachts die Betrachter und zufälligen Passanten von der irritierenden Erscheinung des strahlenden Zickzack-Phänomens unmittelbar angesprochen werden. Schon kleinste Bewegungen und Standpunktwechsel vor dem Schaufenster genügen, um permanent neue Überschneidungen, Kreuzungen, Symmetrien und Parallelitäten innerhalb des bewegten Verlaufes der rot leuchtenden Röhren zu generieren. Die Frage, „was denn das Ganze bedeuten solle“, stellt sich so gesehen gar nicht, sondern wird im Rahmen einer intensiven, auch den Verstand einbeziehenden Betrachtung in mehrfachem Sinne zu Gunsten des Betrachters „aufgehoben“. Morellets Beschäftigung mit den Themen Aneinanderreihung, Überlagerung, Zufall, Interferenz und Fragmentierung, sein erklärter Wille „eine Zeichnung im Raum“ zu schaffen führt konsequenter Weise zu selbstreferenziellen Werken, deren Betrachtung anderes verlaufen muss, als diejenige etwa eines expressiv gemalten Bildes.
In der Tat kann der Betrachter, der während der Öffnungszeiten des Kunstvereins den Ausstellungsraum betritt, durch seine körperliche Anwesenheit und seine Bewegungen im Raum noch mehr von der Vielansichtigkeit und Dynamik des Werkes erfahren. Denn indem man sich um das Werk herumbewegt und das im Kopf zu einem Kreis sich ergänzende Zickzack der Bogenelemente mit ihren mannigfachen Überschneidungen und Verkürzungen wahrnimmt, beginnt man wie von selbst über das, was man sieht, wie man es sieht und über die Art und Weise, wie es hier im Raum präsentiert ist, nachzudenken und noch genauer hinzusehen. Man begreift also nicht nur die komplexe rote Gesamtform in ihrer farbigen Phänomenalität und ihrer von Kontext und Zufall abhängigen Gegebenheit, sondern begreift sich selbst dabei als Sehenden und Erkennenden.
In dem Maße aber, in dem man seine Beobachtungen immer wieder an sich selbst kritisch reflektiert kann die Erfahrung, die man dabei macht, als „ästhetische Erfahrung“ begriffen werden. Zu den Bedingungen dieser Erfahrung gehört die körperliche Anwesenheit von Werk und Betrachter im Raum. Letztere führt nämlich unter anderem dazu, dass das Werk „Lamentable“, wenn man es von verschiedenen Seiten betrachtet, sein Erscheinungsbild permanent verändert. Wahrnehmung wird wie von selbst zu einer differenzierten Befragung der gesamten Ausstellungssituation und letztlich auch unseres eigenen Unterscheidungs- und Begriffsvermögens. Wir beginnen unsere Beobachtungen, Eindrücke, Empfindungen und Zweifel im Akt dieser Wahrnehmung zu reflektieren und stellen fest, dass es durchaus alternierende Sicht- und Erkenntnisweisen gibt, welche permanent durch das hier vorhandene Werke stimuliert werden und dass wir selbst es sind, die die dazu nötigen Standpunktwechsel vornehmen können. Zu Ende gedacht bedeutet dies, dass das man sich in die Lage versetzt, einer anderen Person vor dem Schaufenster, oder an einer anderen Stelle des Raumes folgerichtig auch eine andere Sicht der Lichtinstallation zuzubilligen. An dieser Stelle aber gerät das ästhetische Räsonnement wie von selbst auch zu einer Befragung ethischer Grundlagen, ja vermag die Kunst Morellets zu einem ethischen Analogon zu werden und von einer rein subjektiven Betrachtung zu einer bewussten Einbeziehung eines Anderen zu gelangen.

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