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Wenn Ihr überhaupt nur ahntet, was ich für einen Lebenshunger habe! – Hans Fallada in Thüringen

03.07.2010 - 10.10.2010
Am Morgen des 17. Oktober 1911 gehen zwei Schulfreunde zu einer einsamen Waldlichtung nahe Rudolstadt. In einem vorgetäuschten Pistolenduell wollen sie ihren jungen Leben gemeinsam ein Ende setzen. Doch während ein Duellant stirbt, überlebt der andere schwer verletzt. Sein Name lautet Rudolf Ditzen, später wird er als Hans Fallada (1893–1947) zum berühmten Schriftsteller. Ein Roman über die tragischen Jugendjahre blieb ungeschrieben, das spektakuläre Scheinduell ging als „Gymnasiastentragödie auf dem Uhufelsen“ in die Kriminalgeschichte ein. Schon im Frühjahr 1911 kam der depressive Schüler zur Kur in die thüringische Provinz. Seinerzeit hofften die ratlosen Eltern auf Heilung jener rätselhaften Zwangsideen des Sohnes an frischer Waldluft. Bad Berka, Schnepfenthal, Rudolstadt, Jena und Tannenfeld bei Gera wurden zu Orten einer Leidensgeschichte; geprägt vom Wunsch zur eigenen Schriftstellerexistenz und belastet von wiederkehrenden Selbstmordphantasien. Las er nur die „falschen“ Bücher oder woher stammten seine Zweifel am Leben und die Faszination für das selbstbestimmte Sterben? Die häufigen Selbstmordgedanken waren beide nicht mehr losgeworden, ein rätselhaftes Ehrenwort und philosophische Skepsis am Weiterleben führten scheinbar in den frühen Tod. Zurück blieben ein getöteter Freund und die bohrende Frage nach dem Warum? Die literaturbegeisterten Gymnasiasten schwärmten mit Enthusiasmus für Oscar Wilde, Hugo von Hofmannsthal und die Schriften Friedrich Nietzsches. Dessen „Zarathustra“ predigte einst radikal: „Viele sterben zu spät, und Einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre: Stirb zur rechten Zeit!“ Aber weshalb möchten junge Menschen sterben? Doppelselbstmord, pubertäre Mutprobe, Schulängste, Tötung auf Verlangen, unerwiderte Liebe gekränkter Abiturienten oder Neurasthenie, die pathologische Nervenschwäche der modernen Zeit? Schon im sogenannten „Nervösen Zeitalter“ deutete man die sich häufenden Schülerselbstmorde nicht lediglich als „Einzelfälle“, sondern erkannte darin ein morbides Krisenphänomen der wilhelminischen Gesellschaftsordnung. Der Primaner aus Rudolstadt entwickelte seine eigene Theorie: „Alles kam so, wie es kommen mußte.“ Unter Haftbefehl gestellt, wurde der 18-Jährige in Jena behandelt. Im Gewahrsam der Psychiatrischen Klinik verfasste er einen ausführlichen Lebenslauf, der eindringlich von der Gefühlswelt zwischen Kindheit und Erwachsensein berichtet. Die gerichtlichen Ermittlungen endeten mit einem Gutachten des Psychiaters Otto Binswanger und wurden nach Zuerkennung der Unzurechnungsfähigkeit eingestellt. Während der Unterbringung im Sanatorium Tannenfeld verband ihn eine Hass-Liebe mit seiner Tante Ada, die den labilen Neffen selbstlos pflegte, an moderne Literatur heranführte und ihm neuen Lebensmut vermittelte. Erst Ende 1913 verlässt er die Heilanstalt. Gleichwohl sparen seine autobiographischen Schriften die Jahre in Thüringen (bewusst) aus. Nur der expressionistische Erstling „Der junge Goedeschal“ (1920) bezeugte die Spannung zwischen Adoleszenz und Dichterbewusstsein. Die Spurensuche zwischen Literatur und Leben gibt Einblicke in eine Jugend um 1900: Zwänge und Nöte des Erwachsenwerdens, Konflikte mit dem Elternhaus, Leiden an rigider Sexualmoral, schulische Probleme, Kultbücher des Fin de siècle, schwere Krankheiten und tragische Freundschaften, Wandervogel- und Tanzstundenepisoden, literarische Vorlieben und leidenschaftliche Lektüren, quälende Suizidgedanken, kokette Endzeitstimmung, herbe Anstaltspsychiatrie und dennoch immer neuer Lebenshunger.

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